Lost places in Wien: Der ehemalige Nordbahnhof

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(Edited)

english summary: My first urban exploration post ever leads me to a deserted railway station area in the middle of Vienna.

Der Nordbahnhof wurde schon 1838, vor der ersten Donauregulierung (1870-75), aufgeschüttet auf einer Insel (um den regelmäßigen Überschwemmungen zu entgehen), eröffnet. Bis 1918 war er der wichtigste Bahnhof der Habsburgmonarchie, nach Ende der Monarchie verlor er an Bedeutung.

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Quelle

Im 2. Weltkrieg wurde er stark beschädigt (angeblich war er auch zentraler Umschlagplatz für den Weitertransport von Juden in die Konzentrationslager) und danach nur mehr als Frachtenbahnhof Wien Nord weiterbetrieben. Ab 1979 wurde der Bahnhof nach und nach verkleinert und erste Bereiche durch Büros und Wohnbauten ersetzt. 2000 wurde der Nordbahnhof endgültig aufgegeben und die Gebäude und die meisten Gleisanlagen abgerissen. Der Bahnhof "Praterstern" übernahm seine Funktion als regionaler Verkehrsknoten. Das Areal verwilderte, Pionierarten eroberten die trockenen, unversiegelten Freiflächen und zahlreiche Tierarten siedelten sich schrittweise an.

Heute ist das ehemalige Bahnhofsareal eines der größten Stadtentwicklungsgebiete Wiens. Bis 2026 sollen hier Wohnungen für rund 20.000 Bewohner entstehen. Der knapp 10ha große verwilderte Bereich mit seinen geschützten und gefährdeten Tierarten, die sog. "Freie Mitte" soll als naturhafte Parkanlage erhalten bleiben, als sog. "Stadtwildnis Nordbahnhof" oder "First Urban Nature Park" auf neudeutsch. Mehr über die zukünftige Gestaltung hier.

Einer der wenig einladenden Eingänge zum Areal: hinter einem Parkplatz versteckt, zwischen Abfalltonne und Betreten verboten-Schildern.
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Eine Art Urwald befindet sich dahinter, durchsetzt von kleinen Wegen. Die dominante Baumart in der "Freien Mitte" ist die Pappel. Pappeln sind als Parkbäume wenig beliebt, da Pappeläste relativ bruchanfällig und daher bei Sturm gefährlich sind.
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Viele der Bäume und Sträucher sind von der Gewöhnlichen Waldrebe (Clematis vitalba) überwuchert.
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Alte, trockene Stängel wurden früher (heute auch noch?) von Kindern angezündet und geraucht - „Lianentschick“ genannt. Der Saft der Pflanze reizt bei Kontakt die Haut und führt zur Blasenbildung. Im Mittelalter haben sich angeblich Bettler ihre Haut mit dem Pflanzensaft eingerieben, um durch ihr entstelltes Aussehen Mitleid zu erregen.

Hier gibt es auch Standorte der Aktion #beabutterflyyourself, wo man sich auf riesigen Schmetterlingsausdrucken selbst, als Schmetterling ablichten kann. Hier eine schöne Aufnahme des nachtaktiven Wiener Nachtpfauenauges (Saturnia pyri), des größten mitteleuropäischen Schmetterlings überhaupt.
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Leider gibt es im Areal keine öffentliche Müllabsammlung. Der Müllsack ist eine rein private Initiative von Anwohnern! Dass man in der Natur keinen Müll zurücklassen soll, hat sich offenbar nicht überall herumgesprochen ☹️.

Das Areal öffnet sich zum eigentlichen ehemaligen Gleisbereich und ist heute eine weite, offene Fläche, umgeben von gesichtslosen Neubauten und Baukränen, die sich nach und nach vorarbeiten. Die Bauarbeiten wurden verzögert, als man 2016 hier die streng geschützte Wechselkröte entdeckte, die offene, sonnige, trockene Standorte bevorzugt, also typische Ruderalflächen, die im städtischen Bereich immer seltener werden.
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Ein anderer Grund für die Nichtnutzung war die Tatsache, dass hier zu Zeiten der Monarchie auch der "Petroleumhof" (Umschlagplatz) war, das damals benutzt wurde, um Stechmücken von den Gewässerns ringsum fernzuhalten, als Malariaprophylaxe.

Allgegenwärtig hier ist der Gewöhnliche oder Blaue Natternkopf (Echium vulgare), eine typische Trockenpflanze. Gut für ihn, dass der Gewöhnliche Natternkopf problemlos auf schwermetallkontaminierten Böden überleben kann!

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Detail:
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Eine Kleinblütige Königskerze (Verbascum thapsus).
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Sie ist eine wahre Fundgrube der Naturmedizin. Aus den Blättern kann man einen schleimlösenden Tee oder Sirup machen, der gegen Reizhusten, Bronchitis und Asthma hilft. Auch die Abheilen von Hautwunden wird gefördert. Früher wurden die Farbstoffe auch zum Färben eingesetzt.

Markantester Landschaftspunkt ist der sog. Wasserturm. Er diente als Wasserspeicher zum Befüllen der Dampfloks und stammt aus dem Jahr 1890.
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Die Aufnahme links ist vom Sommer 2019 (Quelle), rechts von letzter Woche. Die Nordbahnhalle ist inzwischen abgebrannt und alle Spuren entfernt.
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Der Wasserturm ist 19,3m hoch und quadratisch mit einer Seitenlänge von 15,1m. Er steht unter Denkmalschutz, aber eine möglichen Verwendung erfordert noch eine aufwendige Restaurierung.
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Den Zugang verhindert leider eine massive Stahltür.
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Man konnte aber von der anderen Seite durch ein vergittertes Fenster hineinfotografieren.
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Ein Stapel alter Schienenschwellen aus Holz (heute wird meist Stahl oder Beton verwendet).
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Abmontierte und vor sich hin rostende Gleise.
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Ein paar Gleise wurden in situ belassen, aus Nostalgie? Sie könnten spätere Parkbesucher an die Geschichte des Ortes erinnern. Rechts Betonblöcke aus den Gleisfundamenten.
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Hier sind die Gleise fast nicht mehr zu sehen, so überwuchert sind sie. Rechts im Hintergrund ein Riesenstapel von Schienenschwellen.
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Hier noch gut zu erkennen das frühere Schotterbett der abmontierten Gleise und wo die einzelnen Schwellen gelegen hatten.
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Diese Weiche lässt sich sogar noch (mehr schlecht als recht) bedienen, aber egal, wie die Weiche steht, es wird keine Auswirkung mehr haben.
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Eine seltsame Ansammlung verrottender Dinge.
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Detailaufnahme.
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Die Gewöhnliche Eselsdistel (Onopordum acanthium) ist auch gut an diesen Standort angepasst und kann bis zu 3m hoch werden. Sie ist die Wappenpflanze Schottlands, seit angeblich ein nächtlicher Überraschungsangriff von (offensichtlich barfüßigen) Wikingern durch die stechenden Dornen der Eselsdistel (bzw. deren Folgen bei den Wikingern) entdeckt werden konnte.
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Es gibt noch eine alte Eisenbahnbrücke, die restauriert und erhalten werden soll. Es handelt sich um eine der ältesten Eisenbahnbrücken Österreichs und stammt aus 1876, die Brückenpfeiler stammen aus dem Jahr 1838 (Quelle). Man kann noch Einschusslöcher aus dem 2. Weltkrieg erkennen.
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Falls Ihr mal in der Nähe seid, schaut Euch diesen interessanten Ort an!

!pinmapple 48.229753 lat 16.391459 long Wien Nordbahnhof d3scr



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Diese Lost Places üben einen großen Reiz aus. Abgesehen von dem Gefühl auf "verbotenem" Gelände zu kraxeln, ist es immer auch ein kitzeln der Neugier, was sich dort alles für Geschichten abgespielt haben. Sollte ich mal wieder nach Wien kommen werde ich dort mit einer Taschenlampe spät Abends auf Erkundungsreise gehen :)
Bei uns gab es mal ein Riesenareal, welches verlassen wurde, als die Amerikaner abzogen. Man-O-Man! Wir haben ganze Nächte mit Taschenlampen (und Bier) alle Tunnel, Säle und Zimmer durchforstet. Leider ist der Ort wieder seit langem genutzt :(
Danke für den informativen Titel! Die Königskerze werde ich jetzt unter die Lupe nehmen …

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Interessante Geschichte und herumstöbern auf der "Gschtettn". Kann mich von meiner Jugend her (Lehrzeit) noch etwas daran erinnern.
Aber in Glanz und Glory nur mehr auf Geschichtsseiten: https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Nordbahnhof

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Nordbahnhof, Innenansicht der Vorhalle, 1867

Die zerstörten Teile wurden 1965 abgerissen, also irgendwie kann ich mich auch daran erinnern, denn vor dieser Zeit habe ich in der Spedition gearbeitet und Frachtbriefe zum Frachtenbahnhof Nordwest geliefert, also das lag am Weg. Guter Bericht im Standard über die Geschichte.

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Danke, das historische Foto im Standard-Artikel ist so gut, dass ich es noch in den post einbaue.

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