Auf der Ars Electronica 2023

Liebe Leser,
bis heute läuft noch die Ars Electronica - Art, Technology & Society, die jährlich in Linz stattfindet.
Sie gilt als eine der wichtigsten Messen weltweit, die sich mit digitaler Kunst beschäftigt, und hat immer eine Schnittstelle zu Wissenschaft und Gesellschaft. Am Freitag war ich dort (nach ca. 20 Jahren). Dieses Mal war das Motto "Who owns the truth"?

Das zentrale Ausstellungsgebäude (es gibt auch andere), die "PostCity", ist selbst recht interessant. Es war das Postverteilungzentrum von Linz, gleich beim Bahnhof. Erst 1994 fertiggestellt, ist es nach nur 20 Jahren Nutzung wieder aufgegeben worden und dient seit 2015 als "Urban Lab" (wie es im Ars Electronica-Slang heisst). Der Grund der Einstellung der 100Mio.€-Anlage: Das Internet, das die Briefe zum Verschwinden brachte, und die LKWs wurden höher, so dass sie das Gebäude nicht mehr befahren konnten.

Über diese Rutschen wurden die Briefe von der Entladeebene oben hinunter in die Sortierebene befördert. Aus Platzgründen hatten man mehrere Ebenen übereinander benutzt (heute wird alles auf einer Ebene abgewickelt und nicht mehr im Stadtzentrum, dafür sind die Transportwege länger).
IMG-1474.jpg

IMG-1496.jpg

IMG-1483.jpg

Das Gebäude wurde, so wie es ist, für Ausstellungen benutzt (heuer zum letzten Mal, es soll demnächst abgerissen werden), was dem Gelände einen interessanten, industriellen Charme verleiht. Der Eingangsbereich, heute fährt hier kein Fahrzeug mehr.
IMG-1511.jpg

Wird aus diesen Gegenständen gerade Kunst gemacht, oder ist die Anordnung dieser Gegenstände bereits das Kunstobjekt? Man bleibt etwas ratlos zurück.
IMG-1476.jpg

Es wurde wieder einmal extrem viel ausgestellt, auch Dinge, die zwar interessant waren, aber mit dem Thema wenig bis gar nichts zu tun haben, zumindest nicht auf den ersten Blick.

Zum Beispiel diese Pflanzen, die aus Büchern herauswachsen.
IMG-1614.jpg

Generell gab es viel mit Pflanzen, meist waren sie auf irgendeine Weise "technifiziert", zum Beispiel dieses Pflänzchen, das an eine komplizierte Maschinerie angeschlossen scheint...
IMG-1528.jpg

Oder dieser Miniaturgarten bzw. aus Miniaturen bestehende Garten, die durch dünne Schläuche miteinander verbunden sind.
IMG-1553.jpg

IMG-1554.jpg

Zoe, eine "temporäre Koexistenz" von Reishi-Pilzkulturen und einem Roboterarm.
IMG-1577.jpg
Aus dem Katalog:"Sensors collect data from the environment and the reishi-mycelium, which creates an internal communication between the reishi and the robotic system. The behavior of the reishi defines the behavior of the robotic system, which in turn influences the shape of the light-sensitive reishi."

Wer wollte nicht immer schon 4 zusätzliche Arme umgeschnallt haben? Für Tänzer eröffnet das sicher ungeahnte Möglichkeiten!
IMG-1494.jpg

Schwebt dieser Stein über einer Wolke in einem Glas?
IMG-1531.jpg

Emils

Aus dem Katalog: "Emils is an ephemeral soft sculpture that consists of millions of viscous slime bubbles which collectively become an essential structure. Inspired by the construction of multicellular organisms, Emils embodies the microscopic and macroscopic perspectives of life forms." Soweit geklärt!

Kurz vor dem Platzen einer Blase.
IMG-1544.jpg

Fashion and Robotics (FAR)
Ein Beispiel für die Vermischung von Kunst, Technologie und Gesellschaft ist dieser Roboter, mit dem Flecken bzw. schadhafte Stellen an Textilien ausgebessert werden sollen. Eine Idee zur Verbesserung der Nachhaltigkeit in der stark auf Kurzzeitgebrauch ("fast fashion") ausgerichteten Modeindustrie.
IMG-1491.jpg
Aus dem Katalog: "The prototype explores a process that applies nano-fibers out of recycled polymers through high-voltage on re-manufacturable clothing."
Die Ergebnisse sind aber noch sehr dürftig. Ein Gag, kein ernstgemeinter Versuch meiner Meinung nach, wie so vieles, was hier zu sehen war. Ähnlich wie

StellaVerde
Ein vertikaler Garten mit (in der Theorie) Fischbecken darunter, das von den Pflanzen oben versorgt werden soll (es waren aber keine Fische drin). Ein spinnenartiger Roboter giesst die Blumen (wenn er nicht gerade wegen Überhitzung pausiert).
IMG-1596.jpg
Aus dem Katalog: "Inspirational prototype of precision garden as a possible scenario for sustainable food production."

An Verköstigung mangelte es nicht. Neben den obligatorischen Foodtrucks, die überteuertes Essen anboten, gab es auch gratis (bzw. gegen eine Spende) nachhaltiges (weil abgelaufenes) Essen zum Selbernehmen, Brot, Aufstriche, Karotten, etc., "open kitchen" genannt.
IMG-1464.jpg

Oft wurden Besucher interaktiv eingebunden, meist über VR-Welten.
IMG-1512.jpg

IMG-1559.jpg

Junge (und junggebliebene Besucher) waren eingeladen, mehr übers Programmieren zu erfahren im "Coder-Dojo".
IMG-1465.jpg

Besucher, die sich (wie im Klassiker Ghost in the Shell) miteinander "vernetzen" können und deren Gehirnwellen gemeinsam etwas steuern (so wird zumindest behauptet).
IMG-1585.jpg

Interactive Resonance Sphere

Je nach Eingabe eines Wortes oder Satzes ensteht hier (mittels AI, was sonst) eine audiovisuelle Konstruktion oszillierender Resonanzphänomene. Sehr gefällig, aber z.B. die Worte "Biene" und "Kirche" wurden laut der AI in die gleiche Kategorie eingeordnet und ergaben somit dasselbe Muster. Na ja.

Eine völlig andere Art der Interaktion bietet das Science Citizen-Projekt roadkill.at der BOKU Wien. Hier kann jeder mitmachen und getötete Tiere auf der Straße über eine App melden. Die User haben auch eine Teilhabe an der Art der Fragestellungen. Sie können mitbestimmen, welchen Weg die weitere Forschung an den Roadkills nehmen soll.
IMG-1497.jpg

In diesem japanischen Spiel zeichnet einer Der Spieler ein Bild und die anderen Mitspieler müssen erraten, was es ist (wie bei Activity). Parallel dazu rät auch eine AI mit. Der Zeichner sollte so zeichnen, dass eher die Menschen die richtige Lösung erraten als die AI. In diesem Fall hat die AI gewonnen.
IMG-1567.jpg

Viele Exponate thematisieren auch das (digitale) Konsumverhalten der Menschen. Zum Beispiel ist der Prototyp FANGØ eine "Verteidigungswaffe gegen den Überwachungskapitalismus".
IMG-1506.jpg

Harmlos aussehend wie ein Ladegerät, durchsucht FANGØ die installierten Social Media-Apps und liked und konsumiert wahllos. Dadurch täuscht es die FANG-Datenbroker (Facebook, Amazon, Netflix und Google) und macht die angelegten Profile durch das Hinzufügen von Rauschen wertlos.
IMG-1508.jpg

Versicherungskonzerne, die z.B. Bewegungsnachweise als Bedingung für niedrige Prämien vorschreiben, könnte man mit solch einem Bewegungssimulator täuschen.

Unter dem Motto "Fake it till you make it" konnte man auch mittels eines Deepfake-Generators selbst Sätze eingeben, die dann innerhalb einer Minute von Trump, Biden, Putin oder Sebastian Kurz aufgesagt werden 😁.
image.png
Falls es mir gelingt, das Video auf 3speak hochzuladen, werdet Ihr erfahren, was ich Trump habe sagen lassen!

Die Fülle an Kreativität, die hier zur Schau gestellt wird, ist atemberaubend. Aber irgendwie wirkt das Meiste, als sei die Kunst im Vorgergrund, und die Technologie nur zwanghaft aufgesetzt, als blosses Vehikel, um Originalität zu erzeugen (und es in die Ausstellung zu schaffen), aber nicht aus echtem Interesse an der Beschäftigung mit Technologie, oder gar aus echtem Bemühen an einer Verbesserung der Zukunft mittels Technologie. Auch wenn sich viele Projekte diesen Anschein geben.

Rundheraus abstossend wird es für mich, wenn Künstler versuchen, sich einem Trend (hier z.B. "trans") anzubiedern und sich vor allem als Wortkünstler hervortun, dann können folgende "erklärende" Texte (zu bunten Bildern von geschminkten Personen) entstehen (die Zitate sind aus dem Katalog bzw. der Beschreibung):

"This series envisions and conjures up a future that transcends the binary epistemologies of civilization-dystopia and techno-utopia, centering on eco-justice and the existence of trans and Indigenous people: life-centric design. It draws inspiration from exobiological ecosystems and the transformative potential of metamorphosis, reframing hybridity as a source of power."

Auf deutsch klingt es nicht verständlicher:
"Diese Serie entwirft und beschwört eine Zukunft, die über die binären Epistemologien der Zivilisationsdystopie und der Techno-Utopie hinausgeht und sich auf ökologische Gerechtigkeit und die Existenz von trans- und indigenen Menschen konzentriert: lebenszentriertes Design. Es lässt sich von exobiologischen Ökosystemen und dem trans-formativen Potential der Metamorphose inspirieren, indem es Hybridität als Quelle der Macht neu interpretiert.

Der Besuch hat sich dennoch mehr als gelohnt. Die Ars Electronica sollte eigentlich jedes Jahr im Herbst Pflichtprogramm sein. Das Tagesticket für die PostCity kostete 14€, die 90-minütige (sehr empfehlenswerte) Führung 4€. Leider ist das ganze Festival aber auf mehrere Standorte verteilt (z.B. auch das Ars Electronica Center, das einen eigenen post wert wäre). Das Ticket für alle Standorte kostete 57€ (für einen Tag!). Aber ein Tag reicht gar nicht, um sich alles anzusehen.

Notiz am Rande: Bei (soweit ich es gesehen habe) fast keinem der vielen Projekte war Blockchaintechnologie auch nur am Rande ein Thema. Wer im Katalog nach "Blockchain" oder "NFT" sucht, findet unter anderem ein Performance-Projekt eines peruanischen Künstlers, das von Non Fuckable Tokens (NFT) handelt! Ansonsten nur Weniges und das meist als Schlagwort benutzt, ohne konkrete Anwendung dahinter.
Auch ein Zeichen, dass wir uns in noch im Bärenmarkt befinden, oder?

Katalog:
https://ars.electronica.art/who-owns-the-truth/files/2023/09/festival2023.pdf

#arselectronica



0
0
0.000
19 comments
avatar
(Edited)

Wow, ich muss mir fie Ausstellung unbedingt anschauen! Ich habe vor ca 5 Jahren dort im Post Verteilerzentrum ein Musikvideo gedreht.

0
0
0.000
avatar

Ich fürchte das war die letzte Gelegenheit, das PostCity in Aktion zu sehen, zumindest was die Ars betrifft.

0
0
0.000
avatar

I'm actually surprised by the illumination of the light and every other thing
This place is so beautiful
What a lovely place to be!

0
0
0.000
avatar

Mir gefallen die kleinen beleuchteten Gärten. Echt schade, dass sie die Rutschen nicht in ein Projekt miteinbezogen haben, da hätte sich bestimmt was richtig Geniales machen lassen.

Täusche ich mich oder fehlt es an Kreativität?

0
0
0.000
avatar

Eventuell habe ich nur nicht genug aufgezeigt!

Angeblich sind die Rutschen eher lahm für Menschen, die Steigung reicht nicht, grad für Briefe :)

0
0
0.000
avatar

Naja zB eine Installation wo man digital etwas sendet oder anfordert und das rutscht dann die Rutsche als Brief runter
Oder eine Licht Geschichte
Oder so
😁

0
0
0.000
avatar

Man sollte Dich fürs nächste Mal dort einladen 😃. Aber bis dahin werden sie das Gebäude schon abgerissen haben.

0
0
0.000
avatar

Spannend! Die Ars Electronica hab ich das letzte mal Ende der 80er miterlebt. Hätte damals nie gedacht, dass es eine derartige Entwicklung nimmt.

0
0
0.000
avatar

Na diese Messe ist ja mehr als skurril. Vor allem der Teil mit den Pflanzen und der "Chemo" bzw. der gescheiterte Versuch Vertical Farming mit Aquaponic vernünftig zu verbinden ist echt daneben. Der 'Interactive Resonance Sphere' scheint ein Prototyp zu sein; da habe ich schon ausgegorene Versionen gesehen die richtig schöne Kaleidoscope-Muster generieren. Die Idee mit der Roadkill-App ist Klasse; die gibt's auch in England (Fokus London) seit längerem. Interessant finde ich auch das FANGO-Gerät wenn das die Algorithmen der "Jungs" etwas durcheinander bringt ;)
Tausend Dank für den ausführlichen Beitrag. Fühlt sich teilweise an, als wäre man dabei gewesen.

0
0
0.000
avatar

Mir scheint es an der wohl notwendigen Demut oder Seriosität gegenüber dieser Form der Kunst zu mangeln? Zumindest gelingt es ihr nicht, meine Aufmerksamkeit auf Betriebstemperatur zu bringen.
Dies offenbart bereits meine Begeisterung für die „aus der Mode gekommenen“ Rutschbahnen, bei denen ich mir vorstellen kann, ein oder zwei Exemplare (vor dem Abriss/Verschrottung) neben das Haus zu platzieren.
Dass die Chinesen es doch tatsächlich hinbekommen haben, aus Kuka eine Gießkanne oder eine Strickmaschen-Auffangmaschine zu machen, lässt für die weitere Zukunft auf noch mehr bahnbrechende Innovationen hoffen.
Endgültig zum Deppen macht man sich wohl dann, wenn man mit diesen todschicken VR-Brillen James Brown zu imitieren versucht. Einen ausgedehnten Disput wäre wohl zwischen der »Mal-Zeichen-Maschine«, der KI und mir gekommen, wenn der Witzbold mir das Gekritzel als Mona Lisa hätte verkaufen wollen. Die KI ist und bleibt ein Spielverderber, die immer alles besser zu wissen glaubt. Wer will schon so jemanden an seiner Seite haben?
Übrigens, Sebastian Kurz Sätze mit vermindertem (reduziertem) Wahrheitsgehalt in den Mund zu legen, grenzt schon beinahe Langweile im Quadrat. Besser/einfallsreicher als das Original geht doch kaum!
Über den Missbrauch der deutschen Sprache lohnt die Zuhilfenahme des klaren Verstandes nicht. Den benötige ich nämlich, wenn ich meiner Frau zu erklären versuche, wie ich mir das mit den Rutschen am Haus so vorgestellt habe. 🥳🤓

0
0
0.000